Faszination Sage

Mein historischer Roman entstand aufgrund dieser Inspiration.

Wie alles begann …

Das Rucksäckchen ist schon ein wenig leichter geworden. Trotzdem: Die Gurte ziepen und drücken. Die Brausestangen mit Himbeergeschmack haben wir als erstes gefuttert auf der Busfahrt von unserer Schule zu dem Museum hier. Die Bustüren öffnen sich. Ich drehe mich nochmal um, meine Hände patschen auf die Taschen meines Jäckchens, meiner Hose. Ich schiele auf den Platz, von dem ich gerade aufgesprungen bin. Hab ich irgendwas vergessen? Meine Klassenkameraden zappeln zwischen den Sitzen und im Gang des Busses. Sie stopfen alles mögliche zurück in die Beutel, Rucksäcke und Taschen. Ich strecke mich ein wenig, balanciere auf den Spitzen meiner Zehen in den Turnschuhen und entdecke unsere Klassenlehrerin. Sie wartet bereits and der Brücke. Dahinter wartet ein riesiges Schloss auf uns alle.

Ein Viertklässler nach dem nächsten blubbert aus dem Bus, ein Knäuel kleiner Menschen mit offenstehenden Mündern verstopft den Weg. Vom Schloss vor uns fliegt unser Blick über das Geländer der Brücke und stürzt sich hinab in den Abgrund – bis unsere Lehrerin unsere Aufmerksamkeit zurückfordert. Hinter ihr her tappen wir über die Halsplanken in den Schlund des weißgetünchten Tores – und hindurch.

Über das Kopfsteinpflaster trudeln und trödeln wir über den Innenhof. Ein paar Kinnladen klappen nach unten. Rund um uns fassen riesigen Bögen den Hof ein, grünes Blattwerk klebt daran und verkleidet den Stein. Mein Blick stolpert. Meine Schühchen auch.

Da hinten, da in der Ecke in den Arkaden, da …

Ich schere ein wenig aus aus dem Gänsemarsch der anderen.

Da ist doch was …

Schneeweiß. Knochig. Knorrig.

Die Macht von Geschichte(n)

Meine Hände zucken nach vorn. Die Absperrung können sie nicht überwinden – zumindest ist diese breit genug, die Finger einer Viertklässlerin fern zu halten. Der ausgebleichte Stamm lehnt sich schutzsuchend an die Wand dieses Schlosses.

BLUTFÖHRE … lese ich auf dem Schild. DIE LEGENDE …

Weiter komme ich nicht. Mein Name schallt über den Schlosshof, dann die Schritte meiner Lehrerin …

Die Mahnung der Lehrerin drückt meine Schultaschen ein wenig nach unten. Ich trotte hinter ihr in die Halle. Die Flügeltür schließt hinter mir. Ich seufze und höre die Zahlenfolge.

„Neunzehn. Das sind alle.“ Und lauter. „Wir gehen hier entlang. Keiner geht alleine weiter!“

Die Glastüren in der nächsten Halle spiegeln Gesichteten und Gesichter und protzen mit Kram, der auf Stoff gebettet liegt. Alte Münzen und Haarspangen, ein paar sind angerostet, ein paar sogar kaputt. Neben der Lehrerin deutet eine Frau auf den Plunder und erzählt. Ein total altes Kleid klebt steif an einer kopflosen Puppe. Anfassen soll man nichts. Der Stoff kratzt an meinen Fingern. An einer Wand kreuzen sich die Stiele alter Gerätschaften. Sie sehen noch ein wenig älter aus, als die Sichel und der Rechen, die meine Uroma in ihrem Holzschuppen rumstehen hat. Ich schlängle mich hindurch zwischen den anderen zum Fenster. Ob ich von hier aus die Blutföhre sehen kann? Das Glas ist kalt an meiner Wange und meine Füßchen landen wieder auf dem Boden, bevor das Räuspern der Lehrerin mein Ohr erreicht.

Bäume und Wiesen und die Ausläufer der Stadt Friedberg kann ich erspähen – nicht den Burghof. Nicht – aber schon gar nicht – diesen Baum. Wo der wohl herkommt?

Der Mund der Frau neben der Lehrerin bewegt sich weiter, wie ihr Finger, der stets auf etwas zeigt. In diesem Zimmer, im nächsten, im darauf folgenden Raum. Und weiter.

Meine Hand schnellt vor den Mund, versteckt mein Gähnen. Achtunddreißig Füßchen trippeln hinter zwei Erwachsenen durch das Labyrinth an Räumen.

Ich kann die Ausgangstür sehen. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, um im nächsten Moment zu erlöschen.

Die Frau dreht sich noch einmal zu uns allen um, die Tür ist versperrt. „Nun zeige ich euch noch einen besonderen Schatz mit einer alten Geschichte.“ Sie reißt die Tür auf und winkt uns, zu folgen. Diesmal ist meine Hand nicht schnell genug, mein Gähnen steckt die anderen an, sogar die Lehrerin, die sich schnell noch zur Seite dreht.

Der Luftzug bringt mich zum Blinzeln und die Frische vertreibt ein wenig die Schläfrigkeit. Der Weg führt in eine bestimmte Richtung. Zug um Zug überhole ich die anderen aus meiner Klasse und bin als erster hinter der Frau an diesem knorrigen Baum. Meine Augen werden groß.

„Ihr seid vorhin über die Brücke ins Schloß gekommen. Den Graben habt ihr bestimmt gesehen.“ Neunzehn nickende Köpfe bringen ein Lächeln auf das Gesicht der Frau. Sie räuspert sich und irgendwie steht sie plötzlich ein wenig anders da. „Wisst Ihr: früher führte ein Weg neben dem Graben zu einem ganz besonderen Platz – dem Richtplatz der Burg. Das nannte man hier auch „Köpfhäusl“.“ Ein Vogel wagte es von irgendwoher sein Zwitschern in die Stille zu stechen, nicht ein Köpfchen wandte sich in dessen Richtung, geschweige denn ab von dieser Frau. „Das ganze Volk der Stadt Friedberg versammelte sich, wenn der Herzog sein Recht gesprochen hatte. Dort wurden die Menschen bestraft aufgrund ihrer bösen Taten. Und die anderen schauten zu. Der Henker wartete dort oben auf der Erhöhung mit seinem Schwert, oder manchmal mit seiner Axt und beendete das Leben der Verbrecher. “ Einer meiner Mitschüler schnappte nach Luft. „Nur einmal ist etwas Ungewöhnliches passiert. Am Köpfhäusl begann ein Baum zu wachsen – eine Föhre.“ Sie trat einen Schritt zur Seite und deutete auf die bleichen, trockenen Überreste des Baumes hinter ihr. „Das war vor hunderten von Jahren. Und der Baum wuchs nur aus einem Grund: Um die Unschuld eines ganz besonderen Menschen zu beweisen. Er überdauerte all die Zeit und erinnert die Menschen daran, dass es etwas gibt, das größer ist, als menschliche Fehler.“ Und dann erzählte sie uns die Sage von der Blutföhre. Die Geschichte des Baumes, des Edelmanns Ulrich und seiner Verlobten Agnes – und deren außergewöhnliche Liebe – ließ mich seither nicht mehr los.

Was mochte damals geschehen sein? Was war der Hintergrund für eine Sage, die achthundert Jahre überdauert? Wie groß ist eine Liebe, der weder der Tod noch die Zeit etwas anhaben kann? Welche Kraft wohnt darin?